Sehen . Erkennen .

Einige Bemerkungen zum Werk von Hannes Rademacher

„Man sieht nur, was man weiß“ hat schon Johann Wolfgang von Goethe konstatiert, oft genug zitiert, aber er hat bis heute Bestand. Somit möchte ich für den interessierten Betrachter einige Bemerkungen zum Werk von Hannes Rademacher anfügen. Der Titel des Kataloges: „Sehen . Erkennen.“ unterstützt genau diesen Gedanken.

Hannes Rademacher entwickelt von Grund auf seine Werke. Auf selbst gefertigte Rahmen spannt er die Leinwände, worauf er die Farben ohne Grundierung direkt aufträgt. Bei erster Betrachtung wirken die Bilder eher flächenhaft, doch es entwickelt sich die ursprüngliche Flächigkeit bei den meisten Arbeiten zu einer Augentäuschung, wenn bei längerem Hinschauen eine räumliche Körperhaftigkeit vorschwebt. Rademacher pflegt hier eine visuelle Sprache der geometrischen Abstraktion. Titel wie „Pyramide“, „Raute“, „Orange-gestreifter Turm“ oder „Tortenstück“ markieren zusätzlich diesen Duktus. Seine Werke atmen Klarheit, zeugen von Stringenz und Ordnung. Sein Sinn für die subtile Schönheit und Eleganz von Farben und Formen hat er dabei stets im Blick.

Diese Form der Malerei wirkt inzwischen fast schon wie ein Erkennungsmerkmal für die Kunst von Hannes Rademacher. Hard-Edge-Painting, eine Form innerhalb der abstrakten Kunst, zeichnet sich durch klare, scharfe Kanten und flächige, geometrische Strukturen aus. Der Stil des Künstlers hebt fundamental die Ästhetik der Ordnung, der Rationalität und die Schönheit klarer Formen hervor. Die Formensprache zeugt von radikaler Präzision, wodurch die energiegeladenen Kanten die meist wenigen Farbflächen ohne sichtbaren Pinselduktus umschließen und gleichzeitig konturieren. Technische Voraussetzung für diesen Stil der Malerei ist die Verwendung von Acrylfarben. Für seine Arbeiten verwendet Hannes Rademacher sogenannte Flashe Vinyl Farbe. Es handelt sich hier um eine Vinylfarbe, die ursprünglich in den 1950er Jahren von der Firma Lefranc & Bourgois für die Bemalung von Theaterkulissen entwickelt wurde. Sie wirkt wie eine extrem matt und deckend auftrockende Farbe, die ein einzigartiges Finish bietet. Durch die enthaltenen, sorgfältig ausgewählten Harze bleibt Flashe dauerhaft geschmeidig und haltbar, wobei das Bindemittel die Einbindung besonders großer Pigmentmengen erlaubt.

Hannes Rademachers Bildfindung folgt zuweilen der Methode des „gelenkten Zufalls“, die ihn immer wieder zu überraschenden neuen ästhetischen Ergebnissen führt.Ein prägnantes Beispiel hierfür stellt die Arbeit „Trompe l’Oeil (Dyckburg)“ dar. Die architektonische Bekrönung über dem Portal des Eingangsbereichs der Kapelle auf Haus Dyckburg in Münster – entworfen von dem Barockbaumeister Johann Conrad Schlaun – hat ihn bei einem Spaziergang fasziniert. Er fertigte ein Foto als Erinnerungsstütze an und sah später die achsiale Schattenbildung, die das Mauerwerk plötzlich strukturierte. Dies führte dann zur Farbfeldaufteilung, die der Künstler in seiner Arbeit vornahm.

Hannes Rademacher fertigt zunächst Skizzen an, bringt Maße und Proportionen in Einklang zur originalen Masseverteilung, reduziert gegebenenfalls ihre Werte und setzt diese schließlich auf der Leinwand um. Dann folgt das Auftragen der Farben in ihren begrenzten Formen. Damit verbindet er quasi die perspektivische Ansicht der vorhandenen Architektur mit den Schattenlinien zu einem Bild, wo im Endergebnis für den Betrachter die Arbeit von der Flächigkeit zu einer gemalten Raumtiefe führt, wie der Titel es manifestiert. Die Flächigkeit dringt in den Raum.

Diese Art der Form- und Raumtiefe setzt Rademacher auch in seinen neueren, kleinformatigen Arbeiten fort. Es handelt sich um proportional verkleinerte Formelemente unter Acrylsturz, die dadurch noch eine verstärkte ästhetische Aura atmen. Sie suggerieren die Raumillusion nach wie vor, nur dass sie nun durch farbliches Wechselspiel eine positive/negative Plastizität wie ein Relief erzeugen, auf die sich der Betrachter einlassen kann. Die Bedeutung der Perspektive zeigt hier deutlich ihren Stellenwert für den Künstler.

Es ist die Wahrnehmung des Künstlers, dessen was er sieht, was ihn umgibt, was ihn antreibt. Rademacher hat sich einmal dazu geäußert, dass er überall Bilder sähe und dass er inzwischen den Mut habe das auch umzusetzen. Er wirkt als Künstler, der geometrische Formen als primäres Medium seiner Ausdruckssprache nutzt. Für ihn bedeutet das eine Konzentration auf die Darstellung der beobachtbaren Welt um ihn herum. Durch die Verwendung einfacher geometrischer Formen erkundet Hannes Rademacher die Harmonie, den Rhythmus und die Dynamik, die diesen Formen innewohnt. Und die Farbe spielt dazu. Er konfrontiert die ruhige Undurchdringlichkeit eines Farbfeldes mit der Raumtiefe eines anderen Farbfeldes.

Wenn der Betrachter in der Arbeit „Pool“ von 2021 zunächst eine farblich gefasste Form einer Raute sieht, wird er erst beim zweiten Hinsehen das Bild eines Swimmingpools erkennen, dessen gelbe Wasserfläche sich von dem Hellblau eines Beckenrandes absetzt und somit aus der Fläche heraus Tiefe suggeriert. Ähnliches gilt auch für die „Einfache Faltung Orange – Blau“ von 2018, eine Arbeit, bei der trotz aller Flächigkeit in der Grundanlage der Betrachter den Eindruck einer nach vorne umgeknickten Konstruktion hat. Überhaupt zeigen weitere „einfach“ oder auch „zweifach gefaltete“ Arbeiten den souveränen Umgang mit der Formung in der Fläche. Der Betrachter wird quasi zurückgeworfen auf das eigene Empfinden, auf eine Aufmerksamkeit, die funktioniert, ohne dass man schon ganz viel darüber wissen muss.

Man sieht in seinen Arbeiten deutlich, wie Hannes Rademacher aus einem scheinbar begrenzten Formen- und Farbenvokabular immer wieder neue Kompositionen entwickelt. In seiner sehr sinnlichen, konkreten Kunst erleben wir den Eindruck von Körperhaftigkeit und Räumlichkeit, wobei er auf die Wirkungskraft der aufgetragenen Farben auf seine entwickelten Formen setzt. Sie zeichnet sich durch Exaktheit, Klarheit und Perfektion aus. Hier begegnen wir dem Erstarken der Farbe als raumformendem Element, und dem scheinbaren Verlassen der Zweidimensionalität.

Für Hannes Rademacher bedeutet dieser Schritt nur eine logische Konsequenz. Erlebbar in den Arbeiten wie etwa „Objet trouvé“ von 2019, wo ein kantiges, längliches, glatt bearbeitetes Stück Flusswurzelholz und eine parallel dazu angeordnete flächigere Form aus Kautschuk in ein reliefartiges Nebeneinander treten, als wenn sie einen Disput zwischen Natur und Künstlichkeit eingehen würden. Ähnliches gilt auch bei „Weisses und rotes Holz“ von 2016, wo unterschiedlich lange, parallel verbundene Holzlatten ein unter strenger Farbgebung gehaltenes neues Dasein fristen, obendrein ein imaginäres Schattenspiel ihrer selbst an die Wand werfen und zusätzliche Tiefe erzeugen.

Hannes Rademachers Kunst konzentriert sich auf die wesentlichen Elemente von Form, Farbe und Raum, um eine unmittelbare sensorische Reaktion des Betrachters hervorzurufen. Der Künstler setzt sich in seinen Arbeiten mit den zugrundeliegenden Prinzipien von Ausgewogenheit, Proportion und Harmonie auseinander, bietet somit Raum für Kontemplation und Inspiration.

Michael Wessing